In
der Zeit, die das Gehirn braucht, um beim Erwachen von totaler
Entspannung auf Mindestbetrieb zu schalten, verpasse ich die
ersten Silben der Alarmierung: .... Fahrtrichtung Bremen, schwerer
Verkehrsunfall mit eingeklemmten Personen!“ Während ich im
Dunkeln noch schnell horche, ob einer meiner Söhne bei der
Alarmierung wach geworden ist, quittiere ich den Alarm des
Funkmeldeempfängers, hüpfe in die Hose und raune meiner Frau ein
„Bis gleich“ zu, das sie mit „Pass auf dich auf“ erwidert.
Ein Ritual, welches Vertrautheit in die unwirklichen Sekunden
bringt, die man braucht bis man vollständig gewahr wird, was
gerade passiert: Es ist mitten in der Nacht. Samstag nacht.
Irgendwo auf der „Bahn“ hat es gekracht, mehrere Personen sind
verletzt und im Fahrzeug eingeklemmt. Die Feuerwehr ist gefragt.
Und im Gegensatz zu den vielen Bränden und einfachen
Hilfeleistungen, bei denen es nicht ganz so kritisch ist und man
auch ab und zu Kurioses oder gar Amüsantes erlebt, weiß man
sofort, dass dies jetzt nicht der Fall sein wird. Im Gegenteil, es
stellt sich eine massive Anspannung im Verbund mit tiefer
Besorgtheit ein: Da kämpft jemand um sein Leben. Nicht irgendwo
im Fernsehen, sondern ein paar tausend Meter entfernt in der
Nacht. Und gleich wird man bei ihm sein und versuchen „den
Unterschied“ zu machen. Jetzt gleich.
Im
Feuerwehrhaus angespannte Gesichter. Kein flapsiger Spruch, kein
Geläster über zerknitterte Gesichtsausdrücke und wilde
Frisuren. Das Löschfahrzeug wird besetzt – Maschinist, Gruppenführer
und 3, 5, 6 Mann – komplett. Der Gruppenführer dreht sich um,
unsere Blicke treffen sich kurz. Ein kurzes Nicken. Ich bin der
einzige mit rettungsdienstlicher Ausbildung. Die wird gebraucht
werden, ganz sicher. „53-10, Ausfahrt“.
Tiefblaue
Blitze machen aus den Leitplanken und Bäumen am Rand der Autobahn
eine Diashow. Ein Blick in den Mannschaftsraum: Viele alte Hasen,
die schon viel Blut auf Blech gesehen haben, aber auch ein
„Neuer“. Immer noch Totenstille und Anspannung. Jeder horcht
in den Funkverkehr: Ist der Rettungsdienst schon da, sind die
vielleicht doch nicht eingeklemmt, ist der Rüstwagen schon ausgerückt?
Nichts.
Wir werden die ersten sein. Mein Job wird es vermutlich sein, auf
Biegen und Brechen ins Innere des Fahrzeuges vorzudringen. Egal
wie es da drinnen aussieht, wie der PKW liegt oder was sonst so
mit ihm ist. Drinnen ist der Verletzungs- und Einklemmungsgrad zu
erkunden, die Personen zu betreuen und als Bindeglied zwischen
Feuerwehr, Rettungsdienst und Patient zu fungieren. Kein Verdrücken,
keine Pause möglich.
„Da
isses“. Nur Warnblinker im Dunkeln, kein Blaulicht. Polizei ist
also auch nicht da. Der Maschinist blockt mit dem 14 Tonnen
schweren Fahrzeug die Unfallstelle gegen den fließenden Verkehr
– zur Sicherheit. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand in
eine hell beleuchtete Einsatzstelle brettert. Als das Fahrzeug
steht, springe ich mit Notfalltasche, Lampe und Decke vom Fahrzeug
und laufe dem Gruppenführer hinterher. Nasser, kalter
Dezemberregen. Mehrere PKW stehen unbeleuchtet oder mit
Warnblinker auf der rechten Fahrbahn. Da stehen Leute am Waldrand,
Fahrzeugteile liegen auf der Bahn, die Leitplanke ist
durchbrochen. Aus den Büschen neben der Autobahn ragt ein
Fahrzeugheck. Irgendwas gelbes mit Heckspoiler. Etwas älteres.
Ein schneller Blick nach vorne: Der ist frontal vor einen Baum.
Muss schnell gewesen sein, wo früher das Getriebe ansetzte, ist
jetzt Baum. Die Tür hinten geht auf, also ich schlüpfe auf die Rücksitzbank.
Zwischen Glassplitter, Stofftiere und CD-Hüllen. Fahrer und
Beifahrerin. Beide sehr jung. „Hallo! Hier ist die Feuerwehr. Können
sie mich verstehen?“ Ein stimmloses Ja von rechts, nichts von
links. Kurze Schrecksekunde, aber links hat einen einigermaßen
tastbaren Puls. Während ich den Warnblinker anschalte, Scheiben
herunterfahre und dann die Zündschlüssel abziehe fange ich an zu
erzählen. Einfache Sätze, nichts kompliziertes: „Du hattest
einen Unfall und bist eingeklemmt. Wo tut es dir weh? Wir müssen
dich rausschneiden, dass kann einen Moment dauern. Wie heißt
du?“ ... und so weiter. Deine Stimme muss präsent sein, dass
ist das einzige, an dem der Junge sich orientieren kann. Also
reden, reden, reden. Nebenher versuche ich genauer zu erkunden,
wie schwer die beiden verletzt sind und wie sie eingeklemmt sind:
Der Motor hat auf der Fahrerseite den Vorderwagen; Lenkrad und das
Armaturenbrett weit in den Fahrgastraum geschoben. Die Beifahrerin,
Steffi, wie ich jetzt weiß, ist zwar eingezwängt, aber nicht
direkt eingeklemmt. Ein paar Schnittwunden sehen dramatisch aus,
werden aber bald vergessen sein. Da ihr aber der Hals weh tut,
werden wir trotzdem etliches an Blech entfernen müssen, um sie möglichst
schonend aus dem PKW zu heben. Eine Querschnittslähmung aufgrund
eines gebrochenen Halswirbels wollen wir nicht riskieren.
Den
Fahrer hat es wirklich schlimm erwischt. Scheiße, scheiße. Er stöhnt
auf als ich ihn abtaste. Das Armaturenbrett hat Knie und den
Oberschenkelknocken in zahllose Splitter aufgespalten und durch
die Muskulatur getrieben. Blut, viel Blut sickert in das Gewebe
und fehlt woanders. Die Unterarme sind links und rechts gebrochen
bei dem Versuch, sich beim Aufprall abzustützen. Links ragt ein
Splitter aus dem Sweater, rechts liegt der Unterarm im rechten
Winkel über der Handbremse. Der Brustkorb hat beim Aufprall auf
das Lenkrad dieses verbogen, was meistens bedeutet, dass die Lunge
durch gesplitterte und gebrochene Rippen verletzt ist. Luftnot ist
die Folge. Das ist wie Verschlucken, dauert nur ewig. Vermutlich
sind die Unterschenkel auch weich wie Pudding. Was mit den inneren
Organen wie Gehirn, Leber etc. ist, die wie ein Punchingball im Körper
vor- und zurückgeschleudert worden sind, kann man nur vermuten.
Ein Riß in der Leber, und er verblutet innerlich. Ein geplatztes
Blutgefäß im Gehirn und er könnte den Rest seines Lebens an die
Decke im Pflegeheim starren. Auch ohne Diagnose durch den Notarzt
(wo bleibt der eigentlich?) wissen wir, das wir uns beeilen müssen.
Der Gruppenführer erscheint am Fenster. „Und?“ „Fahrer
zuerst und mit Crash, Beifahrerin schonend. Zweiten Doktor“.
„Vorschläge beim Fahrer?“ „Tür weg und A-Säule hochdrücken
muss reichen. Wenn wir Zeit haben, das Dach noch.“ Während wir
uns besprechen wackelt das Auto unmerklich. Rüstholz wird
untergelegt, damit uns die Kiste beim Auseinanderschneiden nicht
plötzlich zusammenklappt, wenn die Türen und das Dach plötzlich
fehlen.
Der
Notarzt kommt. Kurze Atempause während er von der Seite aus den
Fahrer untersucht. Mehr als Schmerzmittel, Infusionen, Sauerstoff
geben und ihm eine Halskrause verpassen kann er aber in dieser
Lage auch nicht. Der Junge muss in kürzester Zeit ins nächste
Krankenhaus, um die inneren Blutungen zu stoppen. „Zackig. Es
eilt.“ ist seine Anweisung. Jetzt sind die Kameraden draußen
dran. „Kai, wir schneiden dich jetzt raus. Es wird ein paar mal
laut knallen, aber das ist nicht so schlimm. Gleich ist es
vorbei.“ Wenn wir Pech haben ist das gelogen, aber was soll ich
ihm sonst sagen? Mal ganz abgesehen davon, dass ich nicht weiß,
ob er mich überhaupt versteht. Mit einem durchsichtigen
Kunststoffschild schirme ich ihn ab, vor den Sachen, die da
kommen: TWÄNKK - die verkeilte Fahrertür wird mit eine lauten
Schlag aufgespreizt und einem weiteren Schlag los geschnitten. Kai
stöhnt, er merkt jede Bewegung des PKW. Es wird vermutlich im Fußraum
mehrere Stellen geben, wo Fleisch und Knochensplitter direkten
Kontakt mit Metall haben. Nächster Schlag, die A-Säule ist
oberhalb des Armaturenbrettes durchtrennt. Für die nächsten
Schritt an der A-Säule im Fußraum wird der Schutzschild
vorsichtig zwischen das Bein und das Metall geschoben. Kai stöhnt
wieder. Der Schild geht nicht tiefer. Vermutlich wird das Bein so
kräftig gegen die A-Säule gedrückt, das es nicht weitergeht.
Kurze Besprechung mit dem Arzt – weitermachen. Konzentriert
setzt der Geräteführer die Rettungsschere an. 600 bar Öldruck
pressen die Scherenspitzen mit 100 Tonnen zusammen. Durch Metall,
Kunststoff – oder Knochen wenn man nicht aufpasst. In diesem
Momenten ist der Bedienknopf scheinbar glühend heiß. Schneiden,
Stopp, Kontrolle, Schneiden, Stopp, Kontrolle. Der nächste Schlag
– die Säule ist durch. Lautes Stöhnen. Das gleiche noch einmal
und in die ausgeschnittene Stelle kann der Spreizer gesetzt
werden, um das Armaturenbrett nach oben zu drücken. Es gibt nur
ein Problem: Wenn Körperteile, die zusammengedrückt werden, mit
einem Schlag entlastet werden, können innere Blutungen wieder
auftreten, die vorher durch den Druck abgedrückt wurden. Der Arzt
befürchtet dies auch und legt eine weitere Infusion. Verhindern
kann man es nicht. Sackt der Blutdruck nach dem Hochdrücken des
Armaturenbrettes massiv ab, muss er sofort raus und unters Messer.
„Kai,
das wird vermutlich noch einmal weh tun, aber danach ist es
besser.“ Wem erzähle ich da was - ihm oder mir? Das Leben des
Jungen hängt mit seinen zerschmetterten Knochen an einem seidenen
Farben. Zum ersten Mal Zeit für Mitgefühl: Komm, Junge, zieh.
ZIEH. Noch 5 Minuten, dann ist es vorbei. ZIEH. Kai stöhnt.
Schneller.
Das
Anheben des Armaturenbrettes ist ähnlich schwierig wie das
vorherige Einschneiden. Technisch ist es kein Problem, mit 10
Tonnen Druckkraft das Metall auseinanderzudrücken, aber keiner
weiß, ob die Reste der Unterschenkel nicht irgendwie mit dem
Metall verhakt sind. Keiner will dem Jungen noch weitere
Verletzungen zufügen.
Mit
Schweiß auf der Stirn setzt der Truppführer das 30kg schwere Gerät
wie eine Pinzette an. Nachdem die Spitzen erst mal „Masse“,
richtige Ansatzpunkte gefunden haben, bewegt sich das
Armaturenbrett laut knackend und knirschend nach oben. Ich
versuche das Schutzschild nachzuschieben. Kurz bevor das
Armaturenbrett Dachhöhe erreicht, stöhnt Kai auf und sackt in
sich zusammen: Bingo. „Der muss raus. Jetzt“ sagt der Arzt.
Eher sich als uns. Ein Blick in den Fußraum bestätigt unsere Befürchtung:
Die Unterschenkel sind blutig und „matsche“, der linke Fuß
ist vom Bodenblech förmlich umschlungen. Doch keine Zeit mehr.
Der klobige – Gott sei Dank klobige - Turnschuh wird
aufgeschnitten, ich ziehe den Fuß mit einem kräftigen Ruck raus.
„Patient frei“ höre ich mich rufen. Dann wird Kai mit der
Hilfe von vielen Händen auf ein Spineboard, eine körperlanges
Brett gezogen. Ich versuche dabei, die Beine einigermaßen zu führen,
was mir aber nur teilweise gelingt. Das dabei entstehende Geräusch
und das Gefühl, Beine mit mehrfach gebrochenen Knochen bewegen zu
müssen, wird mich die nächsten Tage begleiten, dessen bin ich
sicher. Ich gebe den Schutzschild an den Kameraden vom Rüstwagen
weiter, ich bin „raus“. Steffi wird von einer anderen Crew
gerettet.
Es
ist totenstill, als ich meinen Hausflur um 5 Uhr morgens betrete.
Aufgewühlt. Zwar hat Kai das Krankenhaus lebendig erreicht, aber
der Arzt rief auf der Feuerwache an und teilte uns mit, dass er
eine äußerst schlechte Prognose hat. Als ich mich vorsichtig ins
Bett lege, kommt mir nun die stille und friedliche Welt des
Schlafzimmers unwirklich vor. „Wie wars?“ murmelt meine Frau.
„Nicht so schlimm“, lüge ich. Ich werde das morgen mit ihr
besprechen. Es reicht, wenn einer nicht schlafen kann. Und so
liege ich hellwach da und starre die Decke an. Zeugen haben
gesagt, der gelbe Wagen sei an ihnen vorbeigeschossen und dann plötzlich
ins Schleudern gekommen. Zu schnell gefahren. Heizer. Blödmann.
Wenn der schon nicht an sich oder an seine Freundin, denkt, könnte
er doch wenigstens an uns denken. Der Gedanke ist natürlich
absurd.
Der
nächste Gedanke, dass in ein paar Jahren meine Söhne mit
Papa’s Auto loswollen ist es nicht und bricht in die aufziehende
Selbstgerechtigkeit. Wie bringe ich sie dazu, nicht zu heizen? Wie
dazu, dass sie meine Warnungen nicht in den Wind schlagen. Was wäre
gewesen, wenn Kai dein Junge gewesen wäre...
Nach
5 Uhr morgens wieder einschlafen ist eh nicht gut.
Bitte
denkt an uns.
Quelle: www.feuerwehr.de
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